Varoufakis’ vier Strategien für Europa
Am Freitag erschien das kleine Büchlein „Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise“ von Yanis Varoufakis, dem griechischen Finanzminister, Stuart Holland und James K. Galbraith in Deutschland. Auch wenn die Grundideen schon etwas älter sind, nämlich aus dem Jahre 2008, ist es dank der anhaltend schlechten wirtschaftlichen Lage Europas immer noch hochaktuell, mit welchen „Strategien“ Varoufakis die vier von ihm ausgemachten Krisen, die man unter „Eurokrise“ subsumieren könnte, bekämpfen will.
Die vier Krisen
- die Bankenkrise – immer noch haben viele Banken faule Kredite in ihren Büchern, d. h. das Bankensystem ist weiterhin sehr labil und auch bei kleineren Schocks anfällig;
- die Schuldenkrise – die Staatsschulden vieler Eurozonen-Länder scheinen untragbar, allen voran natürlich im Falle von Griechenland, aber auch Spanien, Portugal, Irland oder Italien;
- die Investitionskrise – nicht nur in den „Krisenländern“ liegen die Investitionen weit unter dem Niveau, das für ein gesundes Wachstum notwendig wäre, auch Deutschland weist eine erhebliche Investitionslücke auf, die je nach Berechnung bis zu 80 Milliarden Euro jährlich beträgt und somit zur schlechten wirtschaftlichen Lage beiträgt;
- die soziale Krise – vor allem in Griechenland, aber auch in Spanien, Portugal und vielen anderen Ländern ist die Arbeitslosigkeit extrem angestiegen, ein bedeutender Teil der Bevölkerung lebt in Hunger und mit stark eingeschränktem Zugang zum Gesundheitssystem.
Der bescheidene Lösungsversuch
Varoufakis schlägt für jede dieser Krisen eine eigene Strategie vor, mit der ihre Folgen gelindert werden können. Warum er das im Buchtitel als „bescheidenen“ Vorschlag bezeichnet (neben der Referenz auf Jonathan Swift): Nach Ansicht der Autoren sind die Strategien ohne Änderung an den Verträgen, also mehr oder weniger kurzfristig und ohne langwierigen Abstimmungsprozess aller nationalen Parlamente, umsetzbar; außerdem werden nur bestehenden europäischen Institutionen neue Aufgaben zugeteilt, aber keine neuen Institutionen geschaffen.
Insofern gelingt Varoufakis auf jeden Fall ein beachtlicher Spagat: Seine Strategien stellen naturgemäß eine deutliche Abkehr von der bisherigen Eurokrisen-Politik dar, bauen aber letztlich auf die gleichen Vertragsbedingungen und Institutionen – anders als beispielsweise die Bankenunion oder der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM), die erst im Zuge der Krise neu und mehr als Notbehelf als aus politischer Überlegtheit geschaffen wurden.
Vollkommen unklar ist mir deshalb, weshalb dieses Buch in den deutschen Medien nicht anständig rezipiert wird (siehe etwa die unglaublich schlechte, weil unsachlich und inhaltlich falsche Kritik von Nikolaus Piper in der SZ) – der griechische Finanzminister macht Vorschläge, wie der Eurokrise beizukommen ist, aber Deutschlands Öffentlichkeit soll es nicht interessieren? Bei genauerer Betrachtung der vier Strategien wird klar, dass sie nicht ganz simpel sind, aber zumindest teilweise auf jeden Fall einer ernsthaften Diskussion würdig – gerade auch im Eurokrisen-ideologisch so festgefahrenen Deutschland.
Wie sehen Varoufakis’ Strategien also aus?
- Die erste Strategie gegen die Bankenkrise sieht vor, dass die Europäische Zentralbank (EZB) unterfinanzierte Banken rekapitalisiert und dafür entsprechende Anteile an den Banken erhält. Diese Anteile kann sie dann bei erfolgreicher Sanierung der Bank wieder verkaufen und so ihre Aufwendungen decken.
Dies ist kein besonders neuer Vorschlag: Die Bankensanierung in den USA ist teilweise nach diesem Schema abgelaufen. Deswegen ist er aber keineswegs schlecht, da die amerikanischen Banken inzwischen weit gesünder sind als die europäischen. Man könnte damit außerdem verhindern, dass insolvente systemrelevante Banken ganze Länder an den Rand des Staatsbankrotts treiben können, wie es bei allen „Krisenländern“ außer Griechenland der Fall gewesen ist. Mit dieser Lösung wäre nicht mehr der Staat, in dem die illiquide oder insolvente Bank sitzt, für die Bank zuständig, sondern die EZB, sodass Staaten nicht mehr von ihren Banken mit in den Abgrund gezogen werden könnten.
Wer ein Interesse an einer langfristig stabilen Währungsunion hat, kommt um die Unterstützung dieses Vorschlags nicht herum – einzige Alternative wäre ein europäisches Finanzministerium mit eigenen Mitteln, das für Varoufakis aber wegen der dafür notwendigen größeren Änderungen in der europäischen Architektur nicht in Frage kommt. Die jetzt eingeführte Bankenunion verschlimmert die Situation nach Varoufakis’ Einschätzung eher noch, weil sie genau diese Verknüpfung von Ländern und ihren Banken nicht aufhebt. - Die zweite Strategie gegen die Staatsverschuldung ist dahingegen sicher kontroverser zu diskutieren: Sie sieht vor, dass die EZB Staatsanleihen von allen Ländern bei Fälligkeit zurückzahlt – anteilig der vom Maastricht-Vertrag (maximal 60 % Staatsverschuldung in Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt) gedeckten Schulden. So würde die EZB bei einem Land mit einem Schuldenstand von 90 % zwei Drittel der Schulden begleichen. Dies heißt aber nicht, dass die EZB das Geld druckt (anders, als beispielsweise Herr Piper von der SZ es missverstanden hat) – die EZB nimmt das dafür benötigte Geld selbst am Kapitalmarkt auf. Die Schulden, die die EZB für die Staaten getilgt hat, müssen die Staaten der EZB dann vorrangig, also sobald sie dazu in der Lage sind, zurückzahlen.
Diese Strategie funktioniert höchstwahrscheinlich sehr gut: Die überschuldeten Länder können ihre Schulden- und Zinslast reduzieren, die EZB muss aber aufgrund ihrer Eigenschaft und Glaubwürdigkeit als Zentralbank keine Verluste und keine zu hohen Zinsen fürchten. Große Probleme birgt das ganze aber trotzdem: Es geht haarscharf – natürlich gewollt! – am Verbot der Vergemeinschaftung der Schulden vorbei: Das Risiko der Staatsanleihen übernimmt letzten Endes die EZB, da es unwahrscheinlich ist, dass bei Zahlungsausfall des betreffenden Staates auch die EZB gegenüber ihren Gläubigern die Zahlungen einstellen würde. Außerdem – und das ist meines Erachtens das noch größere Problem – strapaziert es die Rolle der EZB gehörig: Sie würde damit der Intention nach nicht Geld-, sondern Finanzpolitik betreiben. Eine Umsetzung dieses Vorschlags wäre also nur vorstellbar unter der Annahme, Deutschland würde plötzlich begreifen, dass die Eurozone für ihr langfristiges Bestehen eine einheitliche Finanzpolitik braucht – aber dann könnte man auch die Anstrengung auf sich nehmen, ein gemeinsames Finanzministerium mit weitreichenden Kompetenzen einzurichten und Eurozonen-Anleihen auszugeben. - Nach ähnlicher Logik funktioniert auch die dritte Strategie gegen die Investitionskrise: Bereits jetzt finanzieren die Europäische Investitionsbank (EIB) und der Europäische Investitionsfonds (EIF) Investitionen in der Eurozone – allerdings nur mit einem Beitrag des jeweiligen Staates in Höhe von 50 %. Dieser Anteil soll nach Vorstellung der Autoren entweder direkt von der EZB übernommen werden – temporär, wie bei den Maastricht-konformen Staatsschulden aus Strategie 2 – oder durch Anleihen von EIB und EIF aufgebracht werden. EIB und EIF würden sich also am Kapitalmarkt Geld leihen, wobei die EZB verspräche einzuschreiten, wenn die Zinsen, die für diese Anleihen gefordert werden, einen bestimmten Wert überschreiten.
Auch hier wird der EZB eine starke Rolle zugewiesen: Sie soll indirekt das Risiko für diese Investitionen übernehmen. Dies ergibt allerdings nur Sinn, wenn man wie Varoufakis davon ausgeht, dass die Investitionen insgesamt sinnvoll sind; dies kann man theoretisch damit begründen, dass es mehrere Gleichgewichte bei der Wirtschaftsentwicklung in den Ländern der Währungsunion gibt: Ein schlechtes Gleichgewicht, in dem wenig investitiert wird, weil man nicht an den Aufschwung glaubt, sodass wegen der wenigen Investitionen und des damit einhergehenden niedrigen Konsums der Aufschwung auch nicht kommt; und ein gutes Gleichgewicht, in dem mehr investiert wird, die Perspektive besser ist und letztlich die Investitionen aufgrund der durch höhere Investitionen und Konsum angekurbelten Wirtschaft auch rentabel sind. Das Programm der EIB und des EIF würden also vom schlechten in das gute Gleichgewicht führen.
Letztlich ist es aber auch hier so: Das Risiko trägt die EZB, weil sie keinen Verlust ihrer Glaubwürdigkeit durch Zahlungsausfälle zulassen würde.* - Mit der vierten Strategie soll versucht werden, der sozialen Katastrophe beizukommen, die die Eurokrise und der politische Umgang mit ihr verursacht haben. Mittel für Nahrungsmittel, Strom und Heizung für alle Bedürftigen in der Eurozone sollen aus den Zinsen für TARGET-Salden gewonnen werden. TARGET-Salden resultieren aus Verrechnungen der einzelnen Länder-Zentralbanken untereinander und sind ein Artefakt der Konstruktion des Zentralbanksystems in der Eurozone; in der aktuellen Krise haben sie die Eurozone vor dem Zusammenbruch bewahrt, weil sie die Rekapitalisierung der Geldwirtschaft in einem Land, das unter Kapitalflucht leidet, ermöglicht haben – so zum Beispiel in Griechenland.
Auf diese Salden werden allerdings Zinsen fällig, die die Zentralbank eines Landes mit negativem Saldo, also z. B. Griechenland, an die Zentralbank des Landes mit positivem Saldo, also z. B. Deutschland, zahlt. Dieser Mechanismus ist also inhärent prozyklisch, d. h. wenn ein Land in einer Krise ist, wird die Krise durch die Zins-Transfers hin zu weniger betroffenen Ländern in den Krisen-Ländern noch verstärkt. Varoufakis schlägt nun vor, dass die Zentralbanken (und damit die dazugehörigen Regierungen, die die Zentralbankgewinne bekommen) auf diese Zinsen verzichten, sodass sie stattdessen zur Bekämpfung der sozialen Katastrophe in der Eurozone verwendet werden können.
Dass Deutschland, das mit dem größten positiven TARGET-Saldo am meisten von dieser Krisen-verstärkenden Regelung profitiert, angesichts der humanitären Lage in der Krisenländern und angesichts der rosigen Lage des deutschen Staatshaushalts nicht auf diese Einnahmen verzichtet, ist eigentlich ein schlechter Witz. Wenn man die Zinsen auf TARGET-Salden schon nicht abschaffen will, weil man falsche Anreize befürchtet, sollte man diese Umwidmung der Zinszahlungen auf jeden Fall unterstützen, weil sie wenigstens teilweise ihre prozyklische Wirkung abmildert.
Fazit
Varoufakis’ Vorschläge sind recht komplex und vielschichtig, weil sie gerade nicht „der große Wurf“ sein wollen, sondern sich mit dem vorhandenen institutionellen Gefüge implementieren ließen. Die Strategien sind außerdem nicht vollkommen absurd: Die Bekämpfung der Bankenkrise mit Hilfe der EZB wurde in den USA so praktiziert, die Bekämpfung der sozialen Krise durch eine Umwidmung der Target-Zinszahlungen ist auf jeden Fall im Sinne des europäischen Projekts. Eine ausführliche Diskussion wäre also in den deutschen Medien und der deutschen Politik durchaus angebracht.
Unrealistischer sind wohl die beiden Strategien zur Bekämpfung der Schulden- und Investitionskrise: Hier wird gefordert, was in Deutschland schwer zu verkaufen ist: dass europäische Institutionen in größerem Ausmaß für Staatsschulden oder Investitionen in bestimmten Ländern die Risiken tragen. Ein ernsthafter Diskurs würde allerdings möglicherweise zu der bitter notwendigen Erkenntnis führen, dass eine Währungsunion ohne eigenständiges Finanzministerium, das über erhebliche Kompetenzen und Mittel verfügt, nicht funktionieren kann.
Fußnote
* Wenn die EZB Verluste macht, heißt das noch lange nicht, dass irgendjemand dafür bezahlen muss, weil eine Zentralbank theoretisch ihr eigenes Geld drucken kann und ihr deswegen niemand den Verlust ausgleichen muss. Verluste würden es politisch schwieriger machen, Zentralbankgewinne an die einzelnen Regierungen auszuschütten, und sollten auf lange Sicht wieder zurückgefahren werden – dies kann eine Zentralbank aber ohne Rekapitalisierung so wie sie in gewöhnlichen Zeiten Gewinne ausweist.